Eine Jaina-Dogmatik.

Umāsvāti's Tattvārthādhigama Sūtra

übersetzt und erläutert von

Hermann Jacobi.

Der erste Dogmatiker der Jainas ist Umāsvāti[1]. Svetāmbara's sowohl als Digambara's nehmen ihn als einen der ihrigen in Anspruch und erkennen sein Tattvārthādhigama-Sūtra als eine autoritative Darstellung ihres Glaubens an , so daß sie es gewissermassen als ein Glaubensbekenntnis in das tägliche Brevier aufgenommen haben[2]. Aber sein Bhāsya zu diesem Sūtra scheint nur von den Svetāmbara's anerkannt zu werden; die Digambara's haben dazu besondere Kommentare, wahrscheinlich weil das Bhāsya Stellen enthält, die sich mit den Unterscheidungslehren ihrer Sekte nicht wohl vertragen. Derselbe Umstand ist auch wohl der Grund, dass nur die Svetāmbara's noch einige andere Schriften[3] Umāsvāti's, der deren 500 verfasst haben soll, besitzen.

Umāsvāti, von den Digambara's auch Umāsvāmin genannt[4], so genannt nach seinem Vater Svāti und seiner Mutter Umā (vom Vatsagotra, daher er auch Vatsīsuta heißt), dem gotra nach ein Kaubhīain, war in Nyaggrodhikāgrāma geboren. Die Weihe empfing er von Ghoanandikamāramaa, dieser von Sivasrī. Sein Lehrer war Mūla, ein Schüler Muṇḍapāda's. Er gehörte zur Nāgaraākhā und schrieb das Tattvārthādhigama - Sūtra in Pāaliputra. Diese Nachrichten finden sich am Ende von Umāsvāti's Bhāya (p. 232 der Ausgabe Bibl. Ind.) und von Siddhasena's Kommentar zu demselben (Peterson 2nd Report, p. 84).

Die Berichte der Digambara's über ihn sind etwas verwirrt. Nach dem ältesten (Inschrift 42 aus 1115 n. Chr. in Ryce, Sravaa-Belgola) ist er ein Schüler Kundakundācārya's (alias Padmanandi) und hatte das birua Gdhrapiccha, das sonst dem Kundakundācārya beigelegt zu werden pflegt (so schon von Srutasāgara). In der Bhūmikā zur Sarvārthasiddhi, wo einige denen jener Inschrift ähnliche Verse zitiert werden, wird er sogar, aber wohl nur irrtümlich,

mit Kundakundācārya identifiziert; denn sowohl die Digambara Paṭṭavali als auch die Svetāmbara's[5] halten beide Autoren auseinander. — Obschon diese Nachrichten der Digambara's auf einer alten Tradition zu beruhen scheinen, so verdienen sie doch keinen

Glauben gegenüber denjenigen der Svetāmbara's, welche sich, wie gesagt, im Bhāya Umāsvāti's selbst finden. Letzteres für eine Fälschung zu halten, liegt kein Grund vor; zudem wird es selbst, sowie die Stelle, welche die fraglichen Notizen bringt, durch Siddhāsena's Kommentar, der bhāyānusārin ist, beglaubigt. Vergleiche auch meine Bemerkung zu I 23. Die Digambara's durften das Bhāya Umasvāti's nicht anerkennen, weil in ihm Lehren vorgetragen werden, welche sie verdammen; dasselbe geschieht auch in der Srāvakaprajapti und implicite auch in Praamarati. Danach ist es ein Irrtum der Digambara's, wenn sie Umasvāti als einen der ihrigen in Anspruch nehmen. Sie taten es wohl nicht mit der

Absicht zu täuschen, sondern weil in jenen frühen Zeiten der Gegensatz der beiden Teile der Jainakirche noch nicht so scharf hervortrat. Wenn auch die Unterscheidungslehren der Digambara's[6] schon mehr oder weniger genau formuliert gewesen sein mögen, so waren sie

doch noch nicht Gegenstand erbitterter Fehde wie später, wie dies Peterson, 2nd Report p. 83, durch den Vergleich zwischen der Stellung Kundakundācārya's im Saprābhtam und der seines Kommentators Srutasāgara's gezeigt hat.

Über Umasvāti's Lebenszeit haben wir verschiedene, weit auseinandergehende Angaben; siehe Klatt, Onomasticon, p. 4 f. und Peterson 4th Report s. v. Umasvāti. Nach den Svetāmbara Paṭṭavalī‘'s starb er Samvat 720 bez. 785, nach der der Digambara's 142.

Durch Kombination lässt sich noch ein etwa zwei Jahrhunderte späteres Datum für die Digambara-Tradition herausrechnen. Nach dem Ādipurāa[7] Jinasena's (Saka 705) starb Lohārya, Nachfolger des Bhadrabāhu II., Vīra 783 = Samvat 295. Da nun nach einer

Paṭṭavali (4th Report s. v. Kundakunda) Umasvāti der sechste in der mit Bhadrabāhu beginnenden Liste ist, so würde er etwa Samvat 350—400 anzusetzen sein.

Einen sichereren Weg zur Schätzung des Alters unseres Autors bietet die Chronologie seiner Kommentatoren. Samantabhadra verfasste zu dem Tattvārthādhigama-Sūtra einen Kommentar, das Gandhahastimahābhāsya, zu welchem das Devāgamastotra die Einleitung

bildet (5th Report s. v. Samantabhadra). Zu dem Devāgamastotra schrieb Akalankadeva die Aṣṭasatī; dieser Kirchenlehrer lebte, wie Pathak gezeigt hat (BBRAS. 1892), in dem dritten Viertel des 8. Jahrh. n. Chr. Danach würde Umasvāti spätestens ins 7. Jahrh. zu setzen sein. Einen ähnlichen Schluss erlauben die Svetāmbara-Kommentare zu Umasvāti 's Sūtra und Bhāya. Solche sind handschriftlich vorhanden von Siddhasena und Haribhadra. Letzterer

lebte in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. n. Chr.[8]. Siddhasena scheint älter zu sein. Mit der Angabe, daß Siddhasenadivākara, wenn er mit unserem Autor identisch sein sollte, die Samvat-Zeitrechnung eingerichtet haben soll, ist nicht viel zu machen. Dagegen scheint von größerer Bedeutung, dass Siddhasena's dritter Vorgänger Dinnagain nach v. 2 der Praasti (3rd Rep. p. 84) seine Schüler im pravacana unterrichtete, ohne sich dabei geschriebener Bücher zu bedienen. Nach einer bekannten Stelle im Kalpasūtra, bez. den Kommentaren dazu, soll nämlich 980 Vīra der Siddhānta kodifiziert worden sein; vorher seien keine Bücher beim Unterricht gebraucht worden[9]. Wenn also Dinnagain sich der vor 980 Vīra üblichen Lehrmethode bediente, so tat er es wahrscheinlich, weil er vor jenem Datum (454 n. Chr.) lebte, dann aber als einer der letzten, oder weil er als Konservativer auch nach jenem Wandel die neue Methode nicht annahm. Letzteres macht die ausdrückliche Hervorhebung des Faktums durch Siddhasena wahrscheinlicher; dann wird er aber nicht gar zu lange nach jenem Datum gelebt haben. Zieht man nun in Betracht, dass Siddhasena drei Generationen später

lebte, so wird man diesen nicht früher als in den Anfang des 6. Jahrh. setzen können, wahrscheinlich aber gegen Mitte oder Ende des 6. Jahrh. setzen dürfen. Vor dieser Zeit müsste also Umasvāti gelebt haben, wenn nicht die obige Angabe, was auch möglich

wäre, ganz ohne Beziehung auf die Kodifizierung des Siddhānta zu deuten ist.

Von den fünf uns erhaltenen Werken Umasvāti's ist das Tattvārthādhigama-Sūtra mit dem Bhāya das umfangreichste und bedeutendste. Es ist eine kurze Dogmatik der Jainas, ein pravacanasagraha, wie es sich selbst nennt. Praamarati und Srāvakaprajapti[10] sind

zum Teil ähnlichen Inhalts; ersteres Werkchen kann aber eher als ein λόγος πϱοτϱεπτιϰός bezeichnet werden, und letzteres ist ausdrücklich für die Belehrung der Laien eingerichtet.

Das Tattvārthādhigama-Sūtra wurde zuerst von Bhandarkar in seinem Report p. 405 ff. veröffentlicht und ist seitdem mehrfach in Indien gedruckt worden. Da aber ohne Kommentar das Sūtra unverständlich ist, so begrüsste ich es freudig, als Herr Premchand die jetzt vollendete Herausgabe des Sūtra mit dem Bhāya unternahm. Denn ich hatte lange eine Übersetzung dieses Werkes ins Auge gefasst. Aber auch das Bhāya ist nicht überall ohne Kommentar verständlich und bietet an manchen Stellen für unser Bedürfnis sachlich zu wenig. Von seiner vollständigen Übersetzung muss daher Abstand genommen werden, bis der ausführliche Kommentar Siddhasena's gedruckt vorliegt. Dagegen glaubte ich mit

Zuhülfenahme anderer Quellen Erläuterungen zu den Sūtren geben zu können, so das Umasvāti's Werk auch uns als Abriss der Jaina-Dogmatik dienen kann. In erster Linie kommt in Betracht ein Digambara-Kommentar zu Umasvāti's Sūtra, die Sarvārthasiddhi des Pūjyapāda (alias Devanandin, Jinendrabuddhi), herausgegeben von Kalāppā Bharamāppā Nitave, Kolhapur 1904. Über das Alter Pūjyapāda's weiss ich nur dies zu sagen, dass ihn Subbacandra in seinem 1552 n. Chr. verfassten ṇḍavapurāa[11] unter alten Kirchenvätern preist und zwar in dieser Reihenfolge: Kundakunda Samantabhadra Pūjyapāda Akalanka Jinasena; und das Srutasāgara (gegen 1500) seine Dīpikā unter anderem auch auf die Sarvārthasiddhi basierte. Die Sarvārthasiddhi ist ein sehr reichhaltiger Kommentar und weicht nicht selten von dem Bhāya ab oder enthält Angaben, die in letzterem fehlen; wo dies der Fall ist, habe ich es meist in meinen Erläuterungen durch ein zugesetztes S kenntlich gemacht.

Mein zweites Hülfsmittel zum sachlichen Verständnis der behandelten Gegenstande war Vinayavijaya's Lokaprakāa, dessen erste Hälfte, den Dravyalokaprakāa umfassend, von Hīrālāl Hasarāja mit Guzerati-Übersetzung, Jāmnagar 1904, herausgegeben ist.

Vinayavijaya, Schüler Kīrtivijaya's, war ein Sohn von Lavaaprasāda's berühmtem Minister Tejapāla mit Rājarī. Er schrieb also um die Mitte des 13. Jahrh. n. Chr. Das Genauere werden wir wohl aus der Praṡasti erfahren, wenn die 2. Hälfte veröffentlicht sein wird. Der Lokaprakāa, den ich mit L bezeichne, ist eine sehr eingehende und klare Darstellung der Jaina-Dogmatik. Ausserdem habe ich Hemacandra's Yogaastra benutzt, und zwar ausser Windisch's Veröffentlichung der vier ersten Prakāas in dieser Zeitschr. Bd. 28, S. 185 ff., Hīirālāl's Ausgabe mit Guzerati-Kommentar, Bombay 1899. Erwähnt sei noch die Syādvādamajarī, von der eine neue vortreffliche Ausgabe mit Guzerati-Übersetzung von Hīrālāl, Jāmnagar 1903, erschienen ist; ferner Vādidevasūri's Pramāanayatattvālokālankāra in der Jaina Yaovijaya Granthamālā Benares, Nr. 1 und 5. Während der Korrektur konnte ich noch den Tattvārthasara des Amtacandra (Samvat 962) und einige andere Digambara-Traktate in Sanātanajainagranthamālā Nr. 1 (Nirnaya Sagara Press 1905) benutzen.

 

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 zum 1. Kapitel

 


 

[1] Hemacandra gibt als Beispiel zu Śabdānuāsana II 2, 39 utkṛṣṭe 'nūpena (utkṛṣṭārthād anūpābhyām yuktād dvitīyā) : upōmāsvātim sagrahītāra. U. wird oft sagrahakāra, vācakamukhya, vācakācārya genannt.

[2] ) So im Jaina-nitya-pāha-sagraha, Nirnaya Sagara Press 1901,  vgl. Sarvārthasiddhi, bhūmikā p. 6: pratidinam avayam pahanīyatvāt sadharmasrāddhajanasvādhyāyärtham.

[3] Nämlich Praamarati, Pūjāprakaraa, Jambūdvīpasamāsa und rāvakaprajapti. Alle diese Traktate hat Vakil Keshavlal Premchand herausgegeben, das an letzter Stelle genannte Werkchen besonders (Nirnaya Sagara Press 1905) die drei ersten als Appendices einer Ausgabe des Tattvārthādhigama Sūtra in der Bibliotheca Indica.

[4] Nicht nur in der Digambara Paṭṭāvalī, sondern auch bei rutasāgara, siehe Sarvārthasiddhi bhūmikā 2, und die dem Sūtra angehängte mahimā). Zeitschrift der D. M. G. Bd. LX.

[5] Peterson 2nd Report p. 83 . . the vetāmbaras also quote him with respect, and according to one vetāmbara tradition, he stood at the dividing line of the two churches, and was largely responsible for the Digambara heresy.

[6] Siehe diese Zeitschr. (ZDMG) Bd. 38, S. 12 f.

[7] Zitiert in der Bhūmikā der Ausgabe der Sarvārthasiddhi p. 3.

[8] ) Er ist der Lehrer Siddhari's. Dieser beendete seine Upamitibbavaprapancā kathā 962 Jyeṣṭha su di 5 gurau. Der Wochentag kommt richtig heraus, sowohl wenn man die Vīra-Ära als auch die Vikrama-Ära zugrunde legt, nämlich 436 n. Chr. 7. Mai, resp. 90G 1. Mai. Aber im ersten Falle stand der Mond in Puya, im zweiten in Punarvasu, wie in der Datumsangabe gesagt ist. Damit erledigt sich Peterson's Raisonnement 4th Rep. p. 5.

[9] pūrvam pustakānapekayaiva guruiyayo rutārpaagrahaavyavahāro 'bhūd iti vddhasampradāya. Meine Ausgabe p. 118, vgl. auch ib. p. 114 unten.

[10] Als Series No. 1 einer Collection of Jain Wortes published by the Jaina Jnanaprasaraka Mandala; mit dor ikā Haribhadrasūri's herausgegeben von Vakil Keshavlal Premchand. Bombay 1905. Ich habe zwar davon eine Korrektur gelesen, aber in den Prakritversen sind viele meiner Verbesserungen unbeachtet geblieben.

[11] Siehe Peterson's 4th Report p. 157.